Recht auf Krankheit – Oder: Horst hat keine Lust

für Dr. A. Roznowski,

Dr. M. Lößner

und für Kathrin D.


Es ist 7:30 Uhr am Morgen. Mein Wecker klingelt. Ich bin längst wach. Denn das steinharte Nackenschonerkissen und die noch härtere, wasserdichte Pritsche – äh, Matratze rauben mir jeden Schlaf.

Vor der Tür meines Patientenzimmers ist bereits reger Betrieb. Ich höre Rollatoren an Ecken stoßen und Infusionsständer klappern, Zimmerschlüssel klimpern und Türen knallen. Ab und zu erschallt die Stimme der Oberschwester durch die Lautsprecher. Irgendjemand soll sich bei der Stationsleitstelle melden.
Ich gottseidank nicht.

Meinen Anschiss habe ich mir bereits gestern Abend abgeholt.

Ich bin nämlich – ich Rebellin – unentschuldigt nicht zum Abendessen erschienen. Dass ich um 17:30 Uhr einfach noch nicht auf eine „Abend“-Mahlzeit eingestellt bin (besonders wenn die Sonne noch prall über dem See scheint), spielt keine Rolle. Es gäbe Regeln in dieser Klinik, an die ich mich zu halten hätte, oder ich könne nach Hause fahren und mein eigenes Ding machen. Man hätte sich Sorgen gemacht, mich bereits gesucht und überhaupt: Das hier sei kein Wellnessurlaub. Der Steuerzahler käme wohl kaum für meine Sommerferien auf. 

Angesichts meines karamellisierten Hauttons und eines leuchtenden Sonnenbrands auf meiner Stirn blieb mir jedes Argument im Hals stecken. Ich gelobte Besserung und trollte mich auf mein Zimmer. 

Immerhin: Hausarrest gab es keinen. Das sieht der Kostenträger wohl nicht vor. Den Rest des Abends verbrachte ich mit Autogenen Training um meinen Frust zu regulieren und rief meine Liebsten an. Heimweh kickt ganz schön. 

Nein, dass hier ist wirklich kein Wellness-Urlaub. Eine medizinische Rehabilitation ist keine Erholungskur. Man soll wieder fit werden. Dazu gehören neben einem straffen Trainingsplan auch regelmäßige Mahlzeiten. Auch wenn, oder gerade weil sie meinem bisherigen Tagesrhythmus widersprechen.

Also stehe ich am nächsten morgen pünktlich um acht auf der Matte. 

Funktionsgymnastik. Bäh! 

Bälle werfen und Hampelmänner springen? Es gibt doch echt sinnvolleres. Schlafen zum Beispiel! Egal. Gemacht wird, was der Plan vorsieht und daher gehts für mich zunächst zum Sportraum. 

Wie jedesmal schlägt mir beim Betreten ein widerlicher Geruchs-Mischmasch aus ungewaschener Kleidung, pudrigen Parfüm und beißend süßlichen Raucherschweiß entgegen. Mir wird schlecht. Ich fühle mich automatisch schwächer, als ich eigentlich bin. 

Ich laufe an der Reihe wartender Rentner entlang. Einige erheben sich prompt, als sie mich sehen, andere halten mir ihre Blutdruckliste entgegen. 

Nicht zum ersten Mal werde ich für die Therapeutin gehalten. 

Das liegt zum einen daran, dass ich höflich „guten Tag“ sage und mit federnden Schritten Lichtschalter und Fenster ansteuere. 

Und zum anderen daran, dass ich jung und fit aussehe. 

Leicht irritiert erkennen mich die lieben Alten als Patientin. Automatisch wandert der Blick an mir herunter. Als würden sie scannen wollen, wo an meinem Körper sich denn die frische Narbe, das Stoma oder der Katheter befinden. 

Spoiler: Nichts des oben genannten kann ich vorweisen. Zum Glück!

Ich sehe diese Neugier meinen Mitpatienten nach. Befinden wir uns doch in einer Reha-Klinik für Innere Medizin und viele der hier Behandelten kommen geradewegs aus dem Krankenhaus. Herzinfarkt, Lungenembolie, Krebs.

Und mittendrin: Ich – die scheinbar gesunde, viel zu junge Springinsfeld.

Was werde ich wohl haben?

Ganz abgesehen davon, dass es eigentlich niemanden etwas angeht, möchte ich Wildfremden nicht erzählen müssen, wie ich dank frühzeitiger Diagnose und minimalinvasiver Chirurgie von einem künstlichen Darmausgang verschont geblieben bin. Ich löse die Situation also nicht auf. Gespräche über Krankheiten sind ohnehin allgegenwärtig und mir zutiefst zuwider.

Lieber nutze ich die Chance, die mir gegeben wurde, um bestmöglich wieder leistungsstark zu werden. Ich bin hoch motiviert beim Training, zeige Aufgeschlossenheit allen alternativen Heilungsansätzen gegenüber und esse, was nach einer (sehr ernüchternden) Ernährungsschulung übrig bleibt.

Die Waage zeigt Erfolge. Und der Spiegel erst recht!

Na läuft doch!

Denkste!

Es fällt schwer, sich an seinen Fortschritten zu erfreuen, wenn man subtil ein schlechtes Gewissen vermittelt bekommt, weil man nicht „zum Club gehört“. 

Zum Club der „ernsthaft“ Kranken. Also die, die „wirklich“ eine Reha brauchen. 

Wen ich meine?

Ich habe diese Sorte Menschen „HORST“ getauft. H-O-R-S-T ist kein Name. Es ist ein Sammelbegriff für all diese grantigen alten Leute, die mir vom allerersten Tag an so richtig auf die Nerven gehen. HORSTs sind Leute mit:

Herzinfarkt 

Ohne 

Rücksichtnahme, 

Selbstreflektion und 

Therapiebereitschaft. 

H-O-R-S-T‘s gehören vorwiegend der Baby-Boomer-Generation an und sind entweder kurz vor, oder kurz nach den Eintritt in die Altersruhe urplötzlich aus den Latschen gekippt. 

Gut, das allein ist kein Verbrechen. 

Was mich stört, ist die Einstellung, die die Horst’s hier an den Tag legen. 

Ein Leben lang haben sie nicht auf sich geachtet, nichts für die eigene Gesundheit getan, aber jetzt soll bitte alles so werden wie früher. Und zwar so, wie sie es für richtig erachten: Ohne Anstrengung mit Kuschelkurs. Gefordert werden viel Entspannung, viel Massage und noch viel mehr gutes Essen. Geleistet wird: Nichts. Ist ja so schon alles schwer genug, warum soll man sich dann noch verausgaben?

Die Ursachen ihrer Erkrankung stellen die Horst‘s nicht in Frage. Im Gegenteil. Sie glänzen mit einem Höchstmaß an romantischer Verklärung ihrer eigenen Lebensweise.

Jahrelanges Kettenrauchen, täglicher Verzehr von fettigen und gesalzenen Speisen sowie übermäßiger Alkohol- Fleisch- und Zuckerkonsum gepaart mit einem Minimum an Bewegung bei absoluter Gleichgültigkeit gegenüber sämtlichen Alarmsignalen des Körpers, die Vorbote einer schweren Erkrankung hätten sein können – war doch alles normal und halb so wild. Schuld war einzig und allein die viele Arbeit.

Um es auf den Punkt zu bringen: Horst’s sind Menschen, die nicht begriffen haben, warum sie hier sind.

Die Horst’s fühlen sich durch meine Anwesenheit gestört. Mein Enthusiasmus stresst sie, meine Motivation versaut die Norm. Statt sich mitreißen zu lassen, gehen sie auf Konter.

Beim Aussteigen aus Fahrstühlen werde ich durch prompt entgegenkommende Rollatoren wieder hineingedrängt. Am Buffet wird mir mit zittrigen Händen eilig das letzte Stück Irgendwas weggeschnappt (ganz egal, ob es der Ernährungsplan erlaubt, oder nicht). Und beim Sport setzt es sofort bitterböse Blicke, wenn ich zu viel Spaß an Bewegung zeige, oder – Gott bewahre – zwischendurch lüfte!

Angeblich gibt es heutzutage ja nur noch Memmen. Ich glaube, ich hab sie gefunden. Es sind die Horst‘s!

Da wären die Schlappi-Horst‘s, die bei jeder kleinen Form von Anstrengung gleich die Gliedmaßen auf die Matte plumpsen lassen und jammern, weil man tatsächlich auch mal aktiv werden muss, damit der Körper Muskeln aufbaut. 

Dann die Mimosen-Horst‘s, die sich beschweren, dass das Schwimmbecken zu kalt ist, weil sie zuvor ewig heiß geduscht haben (oder eben gar nicht – und sich dann beschweren, warum es so stark nach Chlor riecht). 

Auch super nervig: Die Störenfried-Horst’s, die beim Autogenen Training nicht auf’s Mobiltelefon verzichten können und dann ewig brauchen, bis die Handy-Klapphülle geöffnet – und das nervtötende Klingelton-Gequake weggedrückt ist. Die Störenfried-Horst’s sind auch jene, die super lärmempfindlich auf eine Horde Schüler am See reagieren, aber gleichzeitig bei voller Lautstärke facetimen, während ich mein Buch lesen möchte.

Und nicht zu vergessen: Die Verweiger-Horst‘s – die größte aller Horst-Gruppen – die beispielsweise beim Korbflechten verzweifeln, weil es nicht fertig bringen, drei Fäden Peddigrohr ineinander zu knüpfen. Die Ergotherapeutin um Hilfe zu bitten, wäre zu viel verlangt. Die Fraktion „Kann ich nicht, will ich nicht“ bückt sich lieber nörgelnd weg und hofft, dass der lästige Termin vorbei gehen möge.  

Um eine Ausrede sind die Horst’s nie verlegen, um bloß nichts Unliebsames machen zu müssen. 

Die Gelenke, die Narbe, der graue Star. Sorry, da geht GAR NICHTS mehr.

Dass die Horst’s grundlegend etwas an ihrer Einstellung ändern müssen, verstehen sie nicht. Ihrer Meinung nach, soll man ihnen einfach irgendein Wundermittelchen geben, nicht zu viel „Geschiss“ drum machen und sie ansonsten in Ruhe lassen. Vorträge werden geschwänzt, Selbsthilfegruppen nicht besucht (denn da müsste man ja auch mal andere Sichtweisen hören). Interesse an neuen Ansätzen haben die Horst’s nicht. 

„Früher gab es das nicht!“ und „Ach, das ist doch alles nur neumodischer Scheiß!“ hört man die Horst‘s grummeln, wenn Achtsamkeitstraining, Yoga und Akupunktur auf den Anwendungsplänen stehen. 

Dann lieber Tablette nehmen und den ganzen Tag Streichel-Massage. Das tut ja so gut!

Reha, das ist doch dieser Urlaub für kranke Leute, die sich auf Kosten der Kassen mal ein wenig den Bauch pinseln lassen dürfen, oder? Nein? Man bekommt glatt den Eindruck.

Nostalgie-Horst’s Gesichter möchte ich sehen, wenn Genossin Oberschwester morgen früh zum Fahnenappell rufen und jeden einzelnen mal so richtig zur Sau machen würde, weil er das Klassenziel beim Korbflechten nicht erreicht hat. Das wäre dann wirklich so wie früher.

Zugegeben, auch ich genieße die Zeit fernab von Arbeit, Haushalt und allen sonstigen Alltags-Verpflichtungen.

Nur sehe ich das Recht auf Gesundheit eben auch als Pflicht an. Ich mache prinzipiell alles mit (abgesehen vom Abendbrot um 17:30 Uhr) und sei es auch noch so unterfordernd. Schließlich kommen mir bei stupiden Aufgaben die besten Ideen für diesen Blog. Das Gehirn braucht bekanntlich etwas Leerlauf, um Kreativität zu entwickeln. Also bastel ich weiter fleißig an meinem Körbchen und fange im Gymnastikraum viel zu lasch zugeworfene Bälle auf. Hat schon alles seinen Sinn. Danach darf ich in wunderbarer Natur spazieren, schwimmen, joggen gehen. Jeden Tag ein bisschen mehr, ein bisschen weiter. Abschließend Yoga am See. Himmlisch. So habe ich mir das vorgestellt. Körperliche und geistige Ressourcen finden, Leistung zurückgewinnen und vor allem: Methoden erlernen, die mir Alltag helfen, mit meiner Erkrankung umzugehen. Das ist mein Ziel.

Und so nehme ich auf dem Bootssteg die Gestalt eines zusammengeklappten Gartenstuhls an und atme tief in mich hinein.

Doch während ich meine Asanas ausübe, erbeben plötzlich die Holzbohlen unter meiner Matte. Das Rollatoren-Geschwader scheppert den Anleger entlang. Es ist kurz vor 17:00 Uhr. Abendbrotzeit. Es wird lamentiert über die zu laschen Mahlzeiten (weil tonnenweise Salz und Fett fehlen), die bösen Politiker „da oben“ und den Akzent der Assistenzärzte. Alles schrecklich, ist klar. Aber jetzt wird erst mal gegessen. Und zwar pünktlich. Sonst entsteht noch der Eindruck, man nehme den Klinikalltag nicht ernst genug. Wie vorbildlich!

Bei Tisch brüsten sich die Horst’s mit den von Ihnen verursachten Rettungseinsätzen. 

Notarzt, Hubschrauber und 12-Stunden-OP‘s. Wer bietet mehr? Als wäre das hier ein Wettbewerb. 

Je krasser die Krankengeschichte ausfällt, desto mehr hat man einen Grund, sich hängen zu lassen?

Die Arbeit von Ärzten, Schwestern, Trainern und Therapeuten – einfach gesagt – die Mühen von JEDEM, der an ihrer Gesundheit mitwirkt, negieren die Horst‘s durch ihre Beratungsresistenz, verlangen aber stets Respekt für das, was sie selbst einst geleistet haben.

Ich merke, wie diese „Helden der Arbeit“ erwarten, dass sich alle ein Beispiel an ihnen nehmen. 

Nur nicht als Mahnung. Sondern leider als Maßstab. 

Generation „niemals krank gewesen“ kann ja so ignorant sein! 

Zum einen weil „Gesundheit“ mehr bedeutet, als die Abwesenheit von äußeren Gebrechen. 

Zum anderen weil die Jüngeren jetzt vor der Herausforderung stehen, ein Gesundheits- und Pflegesystem aufrecht zu erhalten, auf dessen Kosten die Horst‘s jetzt ihre Wunden lecken und das ihnen aufgrund ihrer schlechten Verfassung nun eine Frührente ermöglichen muss. Ein System, in das ich nicht nur monetär einwirke, sondern auch unmittelbar durch meinen Beruf – welchen ich voraussichtlich länger als jeder Patient dieser Klinik ausüben muss, damit der Generationenvertrag aufgeht. Es ist nicht zuletzt deswegen meine Verantwortung, präventiv zu handeln, damit ich der Rentenkasse auch so lange wie möglich als Beitragszahler erhalten bleibe.  

Dabei sind „Schuften bis zum Umfallen“ und der damit einhergehende Verlust meiner gesamten körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit nicht hilfreich.

Meine Erkenntnis nach drei Wochen Reha: 

Es gibt kein Recht auf Krankheit. Aber eins auf Gesundheit. Und das gilt für alle, egal welchen Alters man ist oder welche gesellschaftliche Stellung man inne hat.

Jeder darf gut zu sich sein. Achtsamkeit und Eigenverantwortung sind kein Egoismus. Sie sind unbedingt notwendig, um ein langes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Damit schaden wir ganz sicher niemanden. 

Ich wünschte, die Horst’s würden erkennen, dass sie mehr sind, als eine ausgediente Arbeitskraft. Ich wünschte, die Horst‘s würden etwas finden, was ihr Leben ausfüllt ohne ihnen ein Gefühl von Pflicht zu geben. Irgendetwas, was sie gern tun, oder wenigstens etwas, für das sie auf sich aufpassen wollen. Vielleicht ein Gärtchen, ein Haustier oder doch ein kreatives Hobby?

Wer sagt denn, dass “auf Arbeit gehen“ die einzig akzeptable Art ist, seinem Leben Struktur zu geben? Statt eine Einteilung in Arbeitszeit und Feierabend schlage ich eine Unterteilung in Kreativzeit, Bewegungszeit, Kochzeit, Familienzeit und Entspannungszeit vor. Damit hat man alles, was wirklich zählt erledigt. Auch ohne Stechuhr.

Ich schließe diesen Beitrag mit einem Zitat von Pablo Picasso. Ich habe es an der Tür zur Kreativ-Werkstatt gelesen.

„Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.“ 

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