Berlin-Karma vs. Kiez-Verdränger

…Berlin wird oft als laut, schnelllebig und kommerziell bezeichnet. Ich glaube, Berlin ist deswegen manchmal beleidigt und zeigt dann ganz unverhofft, dass es noch genauso 90er sein kann, wie es einmal war.

Wenn zum Beispiel plötzlich in einem belebten Mitte-Kiez der Strom ausfällt.

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für Mino

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Ich arbeite im Einzelhandel. In Mitte. Schöner Laden, scheiß Bezahlung, man kennt das.

Ausgerechnet am Wochenende zur besten Einkaufszeit passiert es plötzlich:

Licht aus. Musik aus. Sicherheitssystem aus. Alles aus. Ich stehe im Dunkeln. Ich fühle mich, als hätte man mir einen Sack über den Kopf gezogen. Nach dem ersten Schreck versuche ich das Problem zu beheben. Vergeblich. Das Geschäft, in dem ich diesen winterlichen Schneematsch-Samstagnachmittag verbringe, bleibt mucksmäuschenstill. Unheimlich. Ich bin aufgeschmissen. Also schließe ich die Tür ab. „Sorry, Shoppen is grad nich!“ Ich krieche ans Tageslicht, wie ein Maulwurf aus seinem Bau und schaue mich um.

In allen Stores der sonst so belebten Rosenthaler Straße ist der Strom ausgefallen.

Blackout in Mitte.

Es finden sich weitere Angestellten-Maulwürfe auf der Straße ein. Was ist los? Keiner weiß es. Wie lange dauert es? Keine Ahnung. Es wird hektisch telefoniert. Genervte Gesichter.

Nichts geht mehr.

Ich glaube ja, hier ist eine höhere Macht am Werk. Es ist nicht das erste Mal, dass hier urplötzlich der Strom weg ist, die Sanitäranlagen nicht funktionieren oder sich Ungeziefer ausbreitet. Stets in denselben Geschäften.

Ich habe eine Theorie:

Das Berlin-Karma!

Berlin sabotiert die Kiez-Verdränger!

Wer den 90er-Jahre-Spirit stört, bekommt die Retourkutsche dafür.

Kein Internet, kein Handy aufladen, kein schnaufender Kaffeevollautomat, keine Deep-Chill-Elektro-Hintergrundmusik. Als hätte mich jemand völlig unvorbereitet in das Berlin-Mitte der Neunziger Jahre zurück versetzt. Okay, was mache ich? Erst mal aufs Klo. Die Toilettentür fällt hinter mir ins Schloss.

Schwarz.

*Klick Klick*

Schwarz.

Ach ja!

Kacke!

Kerzenlicht beim Pinkeln. Wie romantisch. Es ist stundenlang einfach nur dunkel und leise. So muss es nachts im Museum sein. Aber dort gibt es zumindest einen Sicherheitsdienst.

Es wird immer kälter, denn draußen sind es zweistellige Minusgrade. Wie ich so dasitze, ohne Handy, ohne PC, ohne Espresso und allein, werde ich nachdenklich und stelle mir Berlin-Mitte für immer ohne Strom vor.

Ich denke an unsanierte Altbauwohnungen und Künstlerateliers, wie es sie hier kurz nach der Wende gab. An Bars mit Kerzen und Klavier als Anlaufstelle für kreative und intellektuelle Köpfe, weit entfernt von der heutigen Hipster-Schickeria. Ich denke aber auch an eingefrorene Plumpsklos im Hinterhof und rußende Kohleöfen. Als Kind vom Dorf wäre ich sogar in der Lage, einen solchen zu befeuern. Hier gibt es jetzt aber nur eine ausgefallene Fußbodenheizung.

Rußende Kohleöfen ließen sich auch schwer mit nachhaltigen Modeboutiquen und veganen Kosmetikstudios vereinbaren. Die würden in meinem fiktiv-postelektrischen Berlin-Mitte wohl als erstes aus dem Straßenzug verschwinden, wenn sie den Tauschhandel nicht als neues Geschäftsmodell etablierten. Warme Decken und Kerzen gegen einen Veggie-Fairtrade-Avocado-Lipbalm? Hm, kann funktionieren. Oder man bietet lieber doch was Handfestes an, wie Bäcker, Fleischer, Schlosser und Schuster.

Meine Überlebenschancen wären in dieser Szenerie wohl sehr gering. Vor lauter Langeweile und Schwachsinn würde ich mir wahrscheinlich irgendwann einen freilaufenden Hipster schießen, der auf der Suche nach einer letzten geladenen Powerbank sein Versteck verlassen musste. An denen ist zwar nicht viel zu essen dran, dafür aber genug wärmendes Körperhaar.

Das wäre so gar nicht veggie.

In den Geschäften campieren einzelne Verkäufer bei Käsestullen hinter dem Verkaufstresen. Entschlossen, die ungesicherte Ware zu bewachen. Welch ein großzügiges Opfer! Ob es honoriert wird? Eher nicht! Ob die mich wohl ein Lager aus deren Klamottensortiment bauen ließen? Wahrscheinlich auch nicht. Aber wie schön wäre jetzt eine Höhle aus glitzernden Bomberjacken und Crop Tops. Meine kindliche Phantasie kennt keine Grenzen. Wird Zeit, dass ich mein Handy wieder benutzen kann.

Die vielen Künstler, die hier einst wohnten, hätten bei Stromausfall und Handyentzug nur müde gelächelt. Denn Strom gab es in ihren schimmeligen Souterrainwohnungen ohnehin nicht. Und keine Handys. Dafür aber viele Handwerker und Geschäfte des täglichen Bedarfs im nahen Umkreis.

Mit dem Handy spielen auch die vor dem Geschäft wartenden Teenie-Gruppen. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Rütteln immer wieder an der verschlossenen Tür. Nach dem langweiligen Pflichtprogramm im Anne-Frank-Ausstellung und Otto-Weidt-Museum verlangt man nach Schlüsselanhängerbommeln und transparenten Plastikhandtaschen. Zwingend!

Ach, wie schön war doch die Zeit auf Klassenfahrten!

Ich frage mich, wie viele Flauschebommel-Schlüsselanhänger ich jetzt wohl brauchen würde, um mir einen wärmenden Mantel daraus zu machen?

Ich zünde mir vor dem Geschäft eine Zigarette an. Ein anderer Angestellten-Maulwurf leistet mir Gesellschaft. Er kennt diesen Kiez schon länger. Er hat miterlebt, wie aus brachen Baugruben stylische Hostel und aus Nachkriegs-Ruinen zuerst kultige Kneipen und dann sanierte gesichtslose Designer-Showrooms wurden.

„In diesen Boutiquen ist eigentlich nie jemand zu sehen, außer den gelangweilten Verkäufern. Natürlich nur so lange, bis auch dieser Mietvertrag wieder ausläuft. Dann wird quasi über Nacht etwas anderes daraus.“

Aus einer Kult-Kneipe wird ein Pop-Up-Concept-Store. Dann ein Showroom. Und ganz zum Schluss lackiert man Decke, Boden und Wände weiss und klatscht irgendwas mit Kunst in die Mitte des sonst leeren Raumes. Ein Bronze-Nilpferd in Turnschuhen zum Beispiel. Das soll dann wahnsinnig kreativ sein. Wobei die einzig kreativen Köpfe wohl die Bartender auf den Vernissagen sind.
Ist das Kunst? Ist das Berlin? Nein! Solange es keine Partys mit billigen Alkohol, Musik,  ohne Dresscode und Gästeliste gibt, ist das keine gelebte Kreativität, sondern einfach nur langweilig.

Kein Wunder, dass das Berliner Karma dem gelegentlich Streiche spielt.

Man könnte meinen, Berlin will nicht hilflos dabei zusehen müssen, wie sich seine alternativen Szeneviertel in Einkaufsstraßen verwandeln, auf denen jetzt Rollkoffer-Rudel und Hochwasserhosen-Heinis peinlich amateurhafte Fotoshootings für ihre Social Media Kanäle veranstalten. Zum Totlachen! Eine möglichst natürliche Geh-Pose ist so ziemlich das einzige, was man auch bei noch so viel schauspielerischen Talent nicht nachstellen kann. Kleiner Tipp: Wenn ihr euch beim Gehen darstellen wollt: Geht! Am besten ganz weit weg!

Da wünscht man sich echt die Plumpsklo-Kulisse der Hinterhöfe zurück.

Das Trotzdem kein Grund für Stromausfall-Schikane!

Was hast du denn nur wieder, Berlin? Warum reagierst du so trotzig auf eine Entwicklung, die doch eigentlich so unvermeidbar war?

Ich weiß, es ist auch nervig, wenn schon wieder irgendein Marketing-Event in einem deiner einst so charmanten verlassenen und nun zu tote sanierten Industrielofts stattfindet. Auf denen gelangweilte Selbstdarsteller dann auf interessantes „Networking“ hoffen.

ABER, liebes Berlin, so langsam solltest du deine Aufgabe als Metropole annehmen und dich auf die Dinge einlassen, die das Wachstum so mit sich bringt! London und Paris jammern auch nicht rum. Und die haben auch mit Gentrifizierung, Kiezverdrängung und illegalen Ferienwohnungen zu kämpfen! Oder mit Social-Media-Happenings.

Ist es denn wirklich so schlimm mit den dicht bebauten Straßenzügen, Hipster-Schickeria und ganz viel Tourismus, der mir (durch meinen Job) meine 29m² Einraumwohnung bezahlt?

Das charismatische Rauchercafé zwischen brachliegenden Baugruben ist zwar ein Berlin-typisches Kleinod aus der Nachwendezeit, ist aber angesichts des vielen Zuzuges und dem damit einhergehenden Bauboom längst zur urbanen Legende geworden.

Berlin, die 90er sind vorbei! Tut mir leid!

…Auf einmal ist der Strom wieder da. Ich fühle mich wie aus einem Traum erwacht. die Tür wird geöffnet, die Kerzen ausgeblasen. Noch bevor sich der schwefelige Dunst verzogen hat, steht ein älteres Ehepaar mit Shopping-Tüten im Arm vor mir. „Entschuldigung, wir suchen diese Kult-Kneipe hier um die Ecke.“

„Sorry, ist jetzt n‘ Showroom.“

Die enttäuschten Blicke erlebe ich nicht zum ersten Mal. Genauso folgende Frage:

„Können sie uns ein Restaurant empfehlen, welches nicht so touristisch angelegt ist?“

„Leute, das ist Mitte! Hier ist ALLES touristisch angelegt!“

Draußen pilgern weiter Menschenhorden vorbei. Shopping-Tüten, Posen für Social Media, Rollkoffer. Ich spreche den Rest des Tages Englisch und erkläre freundlich den Weg zu veganen Burgern, öffentlichen Toiletten und bunt besprühten Betonwänden, die ja „so Berlin“ sind. Ich rechtfertige mich für mein Unwissen über den Verbleib von Szeneshops aus der letzten Saison und meine Unkenntnis der Spanischen Sprache. Und dafür, dass es in Berlin nicht überall WLAN gibt.

Nach Feierabend zieht es mich ins „Café Cinema“. Ein Lokal, welches wenige Stunden vor der Wiedervereinigung gegründet wurde. Als Ost-West-Treffpunkt. Jetzt dient das offiziell älteste Café am Hackeschen Markt als Schnittstelle zwischen Alt und Neu. Kerzenlicht, Klavier und keine Instastorys. Ich entdecke Angestellten-Maulwürfe im angeregten Gespräch mit den Bedienungen. Ich setzte mich dazu.

Ja, Berlin, ich hab verstanden…Es tut mir leid! Ich habe dir Unrecht getan. Der 90er-Jahre-Spirit ist genau das, was dich ausmacht. Den brauchst du viel dringender als noch eine weiteres Marketing-Event.

Was planst du als nächstes? Havarie im Hostel? Kakerlaken im Concept Store? Elektronikprobleme in der Espresso Bar? Ist mir egal, Hauptsache, du bleibst so trotzig, wie du bist!

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